Das Frühwerk eines Bekannten
Marc Chagall – Die frühen Jahre im Düsseldorfer K20
Wer bisher dachte, das Anschauen von Chagall-Gemälden bringe die Begegnung mit längst Bekanntem, kann sich jetzt im Düseldorfer K20 eines anderen belehren lassen. Rund 120 Bilder des „Ausnahmetalents“ (so die Pressemitteilung) sind zu sehen. Ihre leuchtende Farbigkeit, die rätselhaften Motive und Themen faszinieren. Er öffne die Türe zu einer Traum- und phantastischen Bilderwelt, erklärt Kuratorin Susanne Meyer-Büser. Mit der Art:Card geht es hier bequem auf eine Entdeckungsreise mit vielen bisher nur wenig bekannten Bildern.
Das Schwergewicht der entlang der Biographie Chagalls konzipierten Ausstellung liegt auf dem Frühwerk. Das nimmt gut die Hälfte des Ausgestellten ein – es handelt sich um die Jahre 1909 bis 1923. Der 1887 in Witebsk (Russisches Kaiserreich, heute Belarus) Geborene kam 1911 nach Paris. Seine frühen Gemälde zeigen den Einfluss der westlichen Avantgarde. Das und auch seine gesellschaftskritische Seite ist im K20 zu studieren. Chagall experimentiert mit Strömungen der ihm zeitgenössischen Moderne und bringt viele Motive, die seine weißrussische Herkunft aus einem Ansiedlungsgebiet für Jüdinnen und Juden reflektieren. Dazu gehört der Großvater auf dem Dach zum Beispiel, die Motive von Hochzeiten, Geschichten und Ereignisse aus dem jüdischen Alltag (wie zum Beispiel der bekannte „Geigenspieler“ von 1911 aus der Kunstsammlung NRW) und die Bilder mit Themen aus dem jüdischen Leben (zum Beispiel „Sabbath“ von 1911).
In manchen Bildern prügeln sich Figuren, urinieren und übergeben sich. Diese mehr dunklen Elemente in der Kunst Chagalls verbinden sich mit Motiven, die surreal wirken und einen phantastische Welt erschaffen. Zum Beispiel im Bild „La mort“ (Der Tod) von 1908/9. Es zeigt eine Dorfstraße, auf dem Dach eines Hauses sitzt ein Geiger, unten auf der Straße ist eine Leiche aufgebahrt, umgeben von sechs Kerzenleuchtern, daneben fegt einer ungerührt die Straße, eine Frau mit weißem Rock erhebt die Arme, scheint aufgeregt oder verzweifelt, hinter einem der Häuser verschwindet eine Gestalt, nur noch die Beine sind zu sehen, der Himmel über allem scheint fast gar nicht zur dunklen Szene zu passen mit seiner noch wahrzunehmenden Helligkeit.
1914 besucht Chagall Witebsk, der Kriegsausbruch verhindert die Rückreise nach Paris. Chagall bleibt acht Jahre in Russland. Er heiratet Bella Rosenfeld. Nicht nur sein Lebensstil, auch sein Malstil verändert sich. Es entstehen naturalistische Bilder seiner Familie. In den 20er Jahren, nach der Revolution in Russland, entstehen Papierarbeiten, die sich mit dem abstrakten Suprematismus (Hauptvertreter Malewitsch) auseinandersetzen. Die Blätter, die das K 20 zeigt, sind eine Rarität.
Chagall begrüßt die Revolution. Seine Kunst unterliegt jedoch bald staatlicher Kontrolle. 1922 kehrt er zurück nach Westeuropa, zunächst nach Berlin, dann ein Jahr später nach Paris. Kunstfreunde sind begeistert von ihm, er ist ein erfolgreicher Künstler. Chagall wiederholt in seinen Gemälden nun viele Bildmotive, er greift auf Früheres zurück, es entstehen die typischen Chagallbilder. Beispiel dafür kann „Das Dorf“ (1925) sein - eine Erinnerung an das heimatliche Witebsk, hell und harmonisch, mit einem roten Haus, einem tanzenden Paar, bäuerlichem Personal, im Vordergrund ein junger Mann mit roter Kappe, der ein Pferd füttert.
1933 entsteht in der Reaktion auf die Naziherrschaft in Deutschland das Bild „Solitude“ (Einsamkeit). Es zeigt einen in Gedanken versunkenen Rabbiner mit einer roten Thorarolle, eine Kuh daneben, eine Geige, darüber im dunklen Himmel schwebt ein Engel. In Mannheim wurden in jenem Jahr Bilder Chagalls öffentlich verbrannt. Während des Zweiten Weltkrieges geht Chagall ins Exil nach New York. Hier entwirft er unter anderem auch Bühnenbilder und Kostüme - zum Beispiel für Strawinskys Feuervogel-Ballett (1945).
1949 kehrt Chagall nach Frankreich zurück. 1985 stirbt er im Alter von 97 Jahren.
Aus der späten Phase stammen die typisch Chagall-blauen Werke wie die „Blaue Landschaft“ (1949). Biblische Themen setzt Chagall ebenfalls um. Im K 20 zu sehen sind etwa „Hiob „ (1975) und der „Verlorene Sohn“ (1975/6).
Einen beeindruckenden Schlusston setzt die Ausstellung im K20 mit dem „Exodus“ (1952-66). Das Bild zeigt in der Mitte einen Gekreuzigten in Gelb (das verweist darauf, dass Jesus Jude war). Im Bild zu erkennen sind viele Motive aus Chagalls früheren Gemälden, allerdings nicht in der gewohnten Farbigkeit, sondern grau: der Hahn, eine weiße Braut, Moses mit den Gesetzestafeln, ein stürzender Engel, ein Fisch. Im Zentrum aber das jüdische Volk auf der Wanderung, man sieht, wie ein Dorf in Flammen aufgeht.
Mit dem „Exodus“ erfährt die Besucherin oder der Besucher noch einmal die Vielzahl von Chagalls Motiven, aber auch seine Auseinandersetzung mit den Strömungen und den dunklen Entwicklungen der Zeit, die er erlebte: Motive seines Lebens und in der Mitte das verfolgte jüdische Volk. Die Direktorin des K 20, Susanne Gaensheimer, nennt die Ausstellung „einzigartig und epochal“ - dem ist nicht zu widersprechen. So viele Chagallbilder in dieser motivlichen Breite und beeindruckenden Dichte sowie auch von so vielen Leihgebern wird man wohl kaum noch einmal zu sehen bekommen.
Dr. Ulrich Erker-Sonnabend
Chagall. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. K 20, Grabbeplatz, Düsseldorf. Bis 10. August 2025.
